| Presseerklärungen des FRNRW PM: Flüchtlinge vor Corona schützen!
Bochum, 19.03.2020
Pressemitteilung 06/2020
Flüchtlingsrat NRW fordert weitgehende Maßnahmen zum Schutz von Schutzsuchenden und Personal in Unterkünften zur Eindämmung der Pandemie
Der Flüchtlingsrat NRW setzt sich angesichts der Coronapandemie für erhöhte Schutzmaßnahmen für Flüchtlinge ein und fordert:
Gesundheitsversorgung
- Illegalisierten (Menschen ohne Papiere) muss der Zugang zum regulären Gesundheitssystem und zu Corona-Tests ermöglicht werden. Dies erscheint auch epidemiologisch sinnvoll! Voraussetzung dafür ist eine Zusage, dass Gesundheitsämter keine Informationen an Ausländerbehörden und Polizei weitergeben werden. Eine temporäre Gesundheitskarte einzuführen, wäre eine Lösung.
Unterbringung
- Das Land muss dringend in Kooperation mit den Kommunen die Anzahl der Personen in den Massenunterkünften deutlich reduzieren und möglichst viele Menschen dezentral unterbringen. Hierzu sind sämtliche freien Kapazitäten einzubeziehen, ggf. muss über die Anmietung von Hotels oder Pensionen nachgedacht werden, um die Belegungsdichte zu reduzieren. In vielen Unterkünften stehen Zimmer leer. Die leerstehenden Zimmer müssen geöffnet werden, um die Belegung der Unterkünfte zu entzerren und die Einhaltung eines Sicherheitsabstandes zwischen den Bewohnerinnen zu ermöglichen.
- Sofortige Verteilung aller besonders gefährdeten Personen (Personen über 60, Personen mit Vorerkrankungen) aus Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften auf dezentrale Unterkünfte, in denen der gebotene Sicherheitsabstand eingehalten werden kann.
- Kostenfreie Tests für alle Bewohnerinnen von Massenunterkünften, in denen bereits Menschen positiv auf das Corona-Virus getestet wurden, mit anschließender Verteilung derjenigen, die negativ getestet wurden, aus Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften auf dezentrale Unterkünfte, in denen der gebotene Sicherheitsabstand eingehalten werden kann. Nur so kann eine schnelle Ausbreitung verhindert werden.
- In Unterkünften und Einrichtungen, in denen Bewohnerinnen positiv getestet wurden, muss für eine adäquate Betreuung gesorgt werden. Die Verlegung der Gesunden erlaubt eine adäquate Betreuung der Erkrankten.
- Menschen, die unter häuslicher Quarantäne in Erstaufnahmeeinrichtungen stehen, müssen sich entsprechend ihrer Ernährungsgewohnheiten versorgen können und die dazu nötigen Lebensmittel erhalten. Auch muss bei Quarantäne die Auszahlung von Bargeld zur Deckung des persönlichen Bedarfs sichergestellt sein.
- Es muss sichergestellt werden, dass in allen Sanitärräumen und Küchen ausreichend Flüssigseife, Papierhandtücher, WC-Papier und ggf. Desinfektionsmittel zur Verfügung steht. Zusätzlich regen wir an, Mittel zur Desinfektion der Hände auf allen Etagen bereitzustellen. Um zum Infektionsschutz ein häufigeres Wäschewaschen zu ermöglichen, sollten die Unterkünfte mit mehr Waschmaschinen und Trocknern ausgestattet werden. Beschränkungen der Waschtemperatur auf 40 Grad sind ggf. aufzuheben.
- Für die Unterkünfte von Flüchtlingen muss das Gleiche gelten wie für jedes private Wohnhaus. Dies beinhaltet auch das Recht, nach eigenem Ermessen Besuch zu empfangen, so lange es keine allgemeine Ausgangs- und Kontaktsperre gibt. Pauschale Besuchsverbote in Unterkünften lehnen wir deshalb ab.
Leistungen nach dem AsylbLG
- Sämtliche Kürzungen von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz müssen aufgehoben werden. Die Unmöglichkeit der Ausreise, Abschiebung, Wahrnehmung von Mitwirkungspflichten usw. ist nicht kausal bzw. nicht von den Flüchtlingen zu vertreten.
Umfassende Information
- Die Bevölkerung ist höchst verunsichert ob der Gefahren einer Coronainfektion. Das gilt umso mehr für Flüchtlinge, die aufgrund fehlender oder geringer Deutschkenntnisse vom öffentlichen Informationsfluss abgeschnitten sind und auf informelle Kanäle zurückgreifen. In Zusammenarbeit mit den Gesundheitsbehörden müssen deshalb schnell offizielle Informationsmaterialen übersetzt und in den Unterkünften in den Sprachen der dort untergebrachten Flüchtlinge zur Verfügung gestellt werden. Zudem sollten Telefon-Hotlines mit Dolmetscherinnen für alle Flüchtlinge und Migrantinnen geschaltet werden, um drängende Fragen direkt beantworten zu können.
Behördliche Verfahren
- Termine bei Behörden bergen ein unabsehbares Infektionsrisiko, weil sich hier besonders viele Flüchtlinge in engen Wartebereichen über längere Zeit aufhalten müssen. Deshalb müssen alle nicht unbedingt notwendigen Termine zur persönlichen Vorsprache abgesagt werden, um Infektionsgefahren zu minimieren. Auch Delegationsvorführungen müssen sofort abgesagt werden.
- Das BAMF sollte keine nachteiligen Entscheidungen mehr erlassen! Beratungsstellen und Kanzleien schließen nach und nach. Der Zugang zu einer effektiven Rechtsberatung ist nicht mehr gewährleistet.
- Gesetzliche oder behördlich angeordnete Fristen, beispielsweise die Klagefrist nach einem ablehnendem BAMF-Bescheid oder Fristen zur Identitätsklärung oder Beschaffung von Dokumenten müssen sofort ausgesetzt werden, um zu verhindern, dass Flüchtlinge trotz massiver Infektionsrisiken zu Behörden, Gerichten, Botschaften und Konsulaten fahren.
- Auf persönliche Vorsprachen bei Ausländerbehörden sollte verzichtet werden. Aufenthaltsgestattungen, Aufenthaltserlaubnisse und Duldungen müssen vorübergehend unbürokratisch von Amts wegen verlängert und am besten mit der Post zugestellt werden.
- Es muss vermieden werden, dass Flüchtlinge die ihnen zustehenden Sozialleistungen nicht erhalten, weil die Sozialämter nicht mehr für den Publikumsverkehr geöffnet sind. Die Auszahlung des menschenwürdigen Existenzminimums muss gewährleistet werden, notfalls vor Ort in den Unterkünften oder per Überweisung.
- Es muss ermöglicht werden, Arbeitserlaubnisverfahren für Asylsuchende und Geduldete online zu erledigen und alle Infos zum Verfahren auf der Website der jeweiligen Behörden zur Verfügung zu stellen.
- Im Rahmen des Familiennachzugs gebuchte Flüge und Visa verfallen, da Nichteuropäerinnen nicht mehr einreisen dürfen. Die Botschaften müssen Visa unkompliziert und ohne erneute Überprüfung verlängern, gerade deshalb, weil viele Familien schon jahrelang getrennt sind und der Nachzug unverschuldet nicht stattfinden kann. Die Länder sollten finanzielle Unterstützungsleistungen bereitstellen, sodass die Familienangehörigen zeitnah nach einer Coronaentwarnung Tickets buchen und einreisen können.
Abschiebungen und Abschiebungshaft aussetzen!
- Abschiebungen innerhalb Europas finden nur noch eingeschränkt statt, da der Luftverkehr und der grenzüberschreitende Verkehr deutlich reduziert sind. Soweit es immer noch zu Abschiebungen kommt, sind diese unverzüglich einzustellen, da sie sowohl für die abzuschiebenden Geflüchteten als auch die Landes- und Bundespolizeibeamtinnen und das Flugpersonal ein inakzeptables Infektionsrisiko bergen. Zudem besteht die Gefahr, dass das Coronavirus in andere Länder weitergetragen wird. Abschiebungen müssen deshalb generell ausgesetzt werden. Immer noch befinden sich Menschen in der Abschiebungshafteinrichtung Büren, obwohl davon auszugehen ist, dass ihre Abschiebungen nicht in absehbarer Zeit durchgeführt werden können. Die inhaftierten Menschen müssen sofort entlassen werden!
Aufenthaltsrechtliche Konsequenzen
- Es ist absehbar, dass sich aufgrund der Corona-Pandemie die wirtschaftliche Lage vieler Betriebe verschlechtern wird. Infolge dessen werden wahrscheinlich auch Menschen ihre Arbeit verlieren. Hiervon sind erfahrungsgemäß überproportional prekäre Beschäftigungsverhältnisse betroffen, die häufig von Menschen mit Migrationshintergrund ausgeübt werden. Gerade bei Regelungen wie der Bleiberechtsregelung oder der neuen Beschäftigungsduldung hängt der Aufenthalt davon ab, dass man den Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit sichert. Hier sollte per Erlass klargestellt werden, dass Unterbrechungen der Lebensunterhaltssicherung infolge der Corona-Pandemie keine negativen aufenthaltsrechtlichen Auswirkungen haben. Entsprechende Aufenthaltserlaubnisse und Ermessensduldungen zur Arbeitssuche sollten großzügig und über einen mindestens neunmonatigen Zeitraum ausgestellt werden.
Birgit Naujoks, Flüchtlingsrat Nordrhein-Westfalen e.V.