| Aktuell, EU-Flüchtlingspolitik Menschenrechte im Ausverkauf: Tunesien-Deal bahnt sich an

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Kaum haben sich die EU-Innenminister*innen mit ihrer GEAS-Position von dem Anspruch an eine menschenrechtlich orientierte Asylpolitik verabschiedet, versuchen sie mit dem Tunesien-Deal Fakten zu schaffen. Mehr als eine Milliarde Euro bieten sie dem autokratischen Präsidenten Saïed, dessen rassistische Hetze jüngst zu schwerer Gewalt führte. 

Das europäische Parlament verurteilt »aufs Schärfste die rassistische Rhetorik von Präsident Saïed gegen Migranten aus den Ländern Afrikas südlich der Sahara und die darauffolgenden Angriffe« und »fordert die staatlichen Stellen auf, die internationalen und nationalen Rechtsvorschriften einzuhalten.« Mit diesen Worten reagierte das europäische Parlament am 16. März 2023 auf die massive Gewalt gegenüber schwarzen Menschen, die sich seit Februar in Tunesien entlädt.

Sie wird in Verbindung gebracht mit einer Mitteilung Kaïs Saïeds. In dieser machte der tunesische Regierungschef Anleihen bei der europäischen Neuen Rechten und beschwor den rassistischen Verschwörungsmythos des »großen Austauschs«, wonach die Zusammensetzung Tunesiens durch einen Komplott verändert werden solle. Migrant*innen diffamierte er dabei als »Teil eines kriminellen Plans«. Hierbei nahm er insbesondere Menschen ohne gültige Ausweisdokumente ins Visier. Nach Verhaftungen, Ausschreitungen und Kündigungen von Jobs und Wohnungen, die Geflüchtete ebenso wie Studierende und Arbeiter*innen trafen, haben viele ihre Lebensgrundlage verloren und sehen sich gezwungen, Tunesien zu verlassen. Sicher sind sie dort nicht.

Gerade die Zusammenarbeit mit Saïed könnte jetzt mit zum Durchbruch in den GEAS-Verhandlungen verholfen haben. Während die Umsetzung der Reformen – sollten sie nicht mehr gestoppt werden können – mehrere Jahre brauchen würden, könnte sich der Deal schnell in niedrigeren Ankunftszahlen niederschlagen. Erneut ist die EU dabei, Fakten zu schaffen.

Externanalisierung ist die zentrale Komponente der Reform

Vergangene Woche haben sich die EU-Innenminister*innen in ihrer gemeinsamen Position darauf geeinigt, das europäische Asylrecht in der EU zu entkernen. Unter anderem streben sie an, das Konzept des »sicheren Drittstaats« massiv auszuweiten. Die finale Position des Rats wurde gerade erst veröffentlicht und muss noch genau analysiert werden, viele Details sind aktuell unklar.

Klar ist aber zum jetzigen Zeitpunkt schon, dass in einem der eigentlichen Asylprüfung vorgeschalteten Zulässigkeitsverfahren zunächst ermittelt werden soll, ob eine asylsuchende Person Verbindungen zu einem vermeintlichen »sicheren Drittstaat« hat. Dafür sollen die bisher geltenden Standards zur Deklarierung »sicherer Drittstaaten« gesenkt werden: Das Land muss nur in Teilgebieten »sicher« sein und für die eigentlich in der EU schutzsuchenden Menschen muss nur ein minimaler rechtlicher Schutz und Versorgung gewährleistet sein. Gibt es entsprechende Vereinbarungen zwischen Drittstaat und EU kann diese »Sicherheit« auch einfach angenommen werden. Denkbar ist, dass dann schon eine verwandtschaftliche Beziehungen oder ein kurzer Aufenthalt in der Vergangenheit (wie die Durchreise auf der Flucht) ausreicht, um einer asylantragsstellender Person eine »Verbindung« zu einem Drittstaat zu unterstellen. Ist das der Fall, wird das Asylgesuch als »unzulässig« abgelehnt. Egal ob die schutzsuchende Person aus Syrien, Afghanistan oder dem Iran kommt, egal ob es sich um Familie mit kleinen Kindern oder um eine allein fliehende Frau handelt – die Abschiebung wird angeordnet.

PETITION: »NEIN ZU EINEM EUROPA DER HAFT- UND FLÜCHTLINGSLAGER!«

Weiterhin sollen Transitstaaten außerhalb der EU dabei unterstützt werden, ihre Grenzen abzuschotten und so die Ankunft von Schutzsuchenden zu verhindern. Zusätzlich ist den EU-Mitgliedstaaten auch die Rückübernahme von abgelehnten Staatsbürger*innen, die in der EU einen Asylantrag gestellt haben, ein zentrales Anliegen.

All das ist nicht neu, sondern prägte bereits vor dem EU-Türkei Deal im Jahr 2016 das EU-Abschottungsregime. Auch mit Tunesien hat die EU bereits zahlreiche Abkommen unterzeichnet, bei denen die Bedeutung von Migration und Asyl stetig zunahm. So wurde etwa 2015 eine Migrationspartnerschaft »zur optimalen Steuerung von Migrationsströmen« geschlossen, die jedoch aktuell nicht den von der EU gewünschten Effekt zeigt. So überrascht es nicht, dass es Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte und die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni als »Team Europe« unmittelbar nach der Einigung im Rat nach Tunesien reisten, um Präsidenten Saïed von der Zusammenarbeit zu überzeugen.

Postfaschistin Meloni gefällt das

Für die EU-Außengrenzstaaten dürften Deals mit Anrainerstaaten, um die Ankunft von Schutzsuchenden zu verhindern, eine wichtige Versicherung gewesen sein, für die die angestrebte Reform sonst wenige Verbesserungen beinhalten. Aufgrund fehlender Solidaritätsmechanismen, die eine verpflichtende Umverteilung von Geflüchteten in der EU vorsehen, werden etwa Italien und Spanien weiterhin für den Großteil der Schutzsuchenden zuständig bleiben. Umso größer dürfte das Interesse sein, alles daranzusetzen, dass weniger Schutzsuchenden die Flucht gelingt.

In Italien steht die postfaschistische Meloni unter Zugzwang. Sie konnte sich 2022 auch mit dem Versprechen, die Zahl der Ankünfte Schutzsuchender zu senken, im Wahlkampf durchsetzen. Laut dem italienischen Innenministerium kamen zwischen Januar und Juni 2023 54.205 Schutzsuchende über das Mittelmeer in Italien an – ein Anstieg von 150 % im Vergleich zum selben Zeitraum 2022 (21.712 Seeankünfte). Um das zu ändern hat Meloni Tunesien, als wichtiges Transit- und Herkunftsland, schon lange im Blick. Bereits im Vorfeld des Innenminister*innengipfels vom 8. Juni reisten sie und Kabinettsmitglieder immer wieder nach Tunis (und Tripoli). So waren die italienische Außen- und Innenminister auch kurz vor der rassistischen Erklärung Saïeds in Tunis um über die »Bekämpfung illegaler Migration« zu sprechen. Viele Beobachter*innen sehen eine direkte Verbindung zwischen den Besuchen Melonis und Saïeds rassistischer Hetze. Die Besuche Italiens wurden flankiert durch EU-Innenkommissarin Johansson, die im April 2023 für Vorverhandlungen in Tunesien eintraf. Und auch die deutsche Innenministerin Nancy Faeser sowie ihr französischer Amtskollege zogen nun nach und kamen am vergangenen Montag, 19.06.2023, mit Präsident Saïed zusammen.

Bis zum 12.06.2023 kamen bereits 920 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer ums Leben (UNHCR) – PRO ASYL fordert Seenotrettung statt Deals mit Autokraten!

Meloni prescht voran: Zusammenarbeit mit Tunesien nach lybischem Vorbild

Laut Recherchen von Amnesty International sicherte Italien dem Land Tunesien längst umfängliche Unterstützung zu – ungeachtet der menschenrechtlichen Situation in dem Land. Nicht nur ging Italien sichtlich erfolgreich auf Werbetour, um finanzielle Unterstützung für das angeschlagene Tunesien zu generieren (siehe unten), auch stellte die italienische Regierung bereits mindestens zwölf Patrouillenboote zur Verfügung, weitere vier sind versprochen.

Als Vorbild dürfte die Zusammenarbeit zwischen Italien und der sogenannten »libyschen Küstenwache« fungieren. Diese wurde insbesondere von Italien ausgerüstet und befähigt Pullbacks durchzuführen – es handelt sich dabei um eine brutale Methode, bei der Fluchtversuche verhindert werden und fliehende Menschen stattdessen ins Herkunfts- oder Transitland zurückgeschleppt werden. Diese Form der Fluchtverhinderung droht sich nun auch in Tunesien zu verbreiten, obwohl das Land bislang kein Asylrecht verabschiedet hat und Schutzsuchende dort nicht sicher sind. Zusätzlich werden damit auch Tunesier*innen, die vor den Repressionen Saïeds fliehen, potenziell in das Verfolgerland zurückgeschleppt.

Auch die deutsche Bundespolizei ist in Tunesien bereits aktiv und unterstützt tunesische Sicherheitskräfte unter anderem mit Ausstattung und Trainings bei der »Bekämpfung irregulärer Migration«.

Tunesiens-Flüchtlings-Deal: Was wurde besprochen?

Bei dem Besuch von der Leyens, Ruttes und Melonis in Tunesien ging es nicht nur um Flucht und Migration. Stattdessen wurde die freundschaftliche Beziehung der EU und Tunesiens beschworen und Versprechen für weitere Politikfeldern gemacht – Wirtschaft, Digitales, Jugendaustausch. Erst als »vierte Säule der Zusammenarbeit« kam von der Leyen auf Migration und Flucht zu sprechen. »Wir werden auf eine operative Partnerschaft zur Bekämpfung der Schleuserkriminalität hinarbeiten. Und wir werden Tunesien beim Grenzmanagement unterstützen. Dieses Jahr wird die EU Tunesien 100 Mio. EUR für das Grenzmanagement, aber auch für Such- und Rettungsmaßnahmen, die Bekämpfung der Schleuserkriminalität und die Rückführung zur Verfügung stellen. So soll eine ganzheitliche Migrationspolitik unterstützt werden, die auf der Achtung der Menschenrechte beruht«, so die EU-Kommissionspräsidentin.

900 Mio. EUR zur Stärkung der Wirtschaft

150 Mio. EUR als Haushaltshilfe

150 Mio. EUR für gemeinsame Investition mit der European Investment Bank in die Digitale Infrastruktur

300 Mio. EUR für Investition in Energieprojekte

100 Mio. EUR für »Grenzmanagement«

10 Mio. EUR für Jugendaustausch

Ob es bei der Summe bleibt, darf bezweifelt werden. Bereits im Mai hat Saïed Berichten zur Folge eine Wunschliste für die Aufrüstung seiner militärischen Struktur bei der EU abgegeben. Vor dem Treffen wurde Saïed mit den Worten zitiert, nicht die Grenzpolizei für die EU zu sein. Wenige Tage nach den Verhandlungen sprach er sich laut Medienberichten erneut dagegen aus, Schutzsuchende und Migrant*innen aus Europa gegen Geld nach Tunesien zurückzutransportieren und dort unterzubringen. Eine zähe Verhandlung zeichnet sich ab, mit der die EU laut eigenem Zeitplan bereits Ende Juni fertig sein möchte. Dann soll eine »operative Partnerschaft« in Form eines »Memorandum of Understandings« vorliegen.

Autokrat Saeid ist auf finanzielle Unterstützung angewiesen

Zehn Jahre nach der Revolution in Tunesien hat mit Kais Saïed erneut ein Autokrat das Land in der Hand. Seit 2021 regiert Saïed Tunesien mit präsidialen Dekreten. Er hat seine Kompetenzen ausgeweitet und die Meinungsfreiheit eingeschränkt. Hart wird gegen Oppositionelle vorgegangen, Verhaftungen nehmen zu. Die letzten Wahlen wurden faktisch boykottiert, die Wahlbeteiligung lag bei 8,8 Prozent. Symbolträchtig war sein Handschlag und das bilaterale Treffen mit Diktator Assads bei dessen Rückkehr in die Arabische Liga im Mai 2023. Saïed soll Assad dabei mit den Worten »Ihr [Syrien] seid unsere Brüder. Und was immer euch verletzt, verletzt uns« begrüßt haben.

Neben der institutionellen und sozialen Krise vertieft sich auch die schwere Wirtschaftskrise, der Staatsbankrott droht. Viele Menschen können sich das alltägliche Leben nicht mehr leisten, die Teuerung ist enorm. Das Land braucht dringend finanzielle Unterstützung, Zahlungen des Internationalen Währungsfonds sind jedoch noch blockiert.

EU stützt Autokraten und macht Geflüchtete zum politischen Spielball

Erst die Türkei, dann Libyen und jetzt Tunesien: Erneut zeigt sich, dass die EU ihre Nachbarschaftspolitik weniger an der Stärkung von Demokratie und Menschenrechten, als an der Reduktion von Ankünften ausrichtet.

Bundesinnenministerin Faeser sagt, sie verfolge das Ziel, die Rechte von Geflüchteten zu stärken und das Sterben auf dem Mittelmeer zu bekämpfen. Weder das eine noch das andere wird mit der Auslagerung von Verantwortung an Staaten, die sich nicht an menschenrechtliche und demokratische Grundlagen halten, erreicht. Stattdessen werden schwere Menschenrechtsverletzungen in Kauf genommen. »Grenzmanagement« übersetzt sich in der Praxis oft als Gewalt und Misshandlungen gegenüber Fliehenden, gefährlichere und oft tödlichere Routen sind die Folge. Zusätzlich stützen die diplomatischen Beziehungen Autokraten in ihren Positionen und stärken die Polizeiapparate, die auch gegenüber Oppositionellen und Minderheiten gewaltvoll vorgehen.

Mit dieser einseitigen Politik befähigt die EU Autokraten dazu, Geflüchtete als Spielball ihrer politischen Interessen zu missbrauchen.

(mz/wj)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Ehrenamtspreis des Flüchtlingsrates NRW

Mit dem Ehrenamtspreis möchte der Flüchtlingsrat NRW das ehrenamtliche Engagement von in der Flüchtlingshilfe aktiven Initiativen und Einzelpersonen in NRW ehren und diese in ihrer Arbeit stärken.

Weitere Informationen zum Ehrenamtspreis finden Sie hier.

Nein zur Bezahlkarte: Ratsbeschlüsse aus nordrhein-westfälischen Kommunen

In dieser regelmäßig aktualisierten Übersicht dokumentiert der Flüchtlingsrat NRW, welche Kommunen sich bisher gegen die Einführung einer Bezahlkarte für Schutzsuchende entschieden haben.

Die Übersicht finden Sie hier.

Keine Propaganda auf Kosten von Flüchtlingen! Argumentationshilfen gegen Vorurteile

Der Flüchtlingsrat NRW e.V. stellt eine ausführliche Argumentationshilfe zur Entkräftung von Vorurteilen (Stand: November 2023) bereit. Diese finden Sie hier.

Broschüre zum Engagement für Flüchtlinge in Landesunterkünften

Der Flüchtlingsrat NRW hat die Broschüre „Ehrenamtlich engagiert – für Schutzsuchende in und um Aufnahmeeinrichtungen des Landes NRW“ aktualisiert (Stand Dezember 2021).

Die Broschüre können Sie hier herunterladen.

Kooperations- und Fördermöglichkeiten für flüchtlingspolitische Veranstaltungen und Projekte

Broschüre des FR NRW, Stand März 2024, zu verschiedenen Institutionen, die fortlaufend für eine finanzielle Unterstützung von Projekten und Veranstaltungen zu flüchtlingspolitischen Themen angefragt werden können.

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Forum Landesunterbringung

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