| Aktuell, Sozialleistungen Bundessozialgericht: Kein Ausreisewillen für Überbrückungsleistungen erforderlich / Überbrückungsleistungen sind Teil der normalen Sozialhilfe

Die GGUA Münster informiert:

Das Bundessozialgericht hat höchstrichterlich einige wichtige und bislang sehr umstrittene Fragen zu den Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 S. 3ff SGB XII entschieden (BSG, Urteil vom 13. Juli 2023, B 8 SO 11/22 R). Die Überbrückungsleistungen sind eingeschränkte Sozialhilfeleistungen, die für normalerweise einen Monat erbracht werden müssen, wenn zum Beispiel Unionsbürger*innen ein Aufenthaltsrecht nur zum Zweck der Arbeitsuche haben oder als nicht-erwerbstätige Personen über kein „richtiges“ Freizügigkeitsrecht verfügen und deshalb von den regulären Sozialhilfeleistungen ausgeschlossen sind. In besonderen Härtefällen müssen die Überbrückungsleistungen auch über einen Monat hinaus und ungekürzt geleistet werden. Die schriftliche Urteilsbegründung liegt noch nicht vor, sondern nur ein kurzer Terminbericht.

Das Bundessozialgericht hat nun entschieden:

  • Die Überbrückungsleistungen müssen auch dann erbracht werden, wenn die Person keinen „Ausreisewillen“ oder keine „Ausreisebereitschaft“ äußert. Die Bereitschaft zur Ausreise ist für den Anspruch auf Überbrückungsleistungen keine Voraussetzung. Das Bundessozialgericht schreibt: „Ein zusätzliches subjektives Moment im Sinne eines Ausreisewillens oder einer Ausreisebereitschaft ist für einen Anspruch auf Überbrückungsleistungen nicht erforderlich.“ Diese Frage war in der Vergangenheit oft umstritten, da die Sozialämter diese Erklärung eines Ausreisewillens häufig verlangt haben, obwohl dies im Gesetz nicht vorgesehen ist. Daher scheiterten die Überbrückungsleistungen oft schon daran. Dies ist nun geklärt, die einzige Voraussetzung für die Überbrückungsleistungen ist die materielle Bedürftigkeit oder auch der fehlende Krankenversicherungsschutz sowie die Kenntnis des Sozialhilfeträgers von der Bedürftigkeit.
  • Die Überbrückungsleistungen sind gekürzte „normale“ Leistungen und nicht etwa eine spezielle „andere“ Leistung. Dies ist manchmal ganz entscheidend: Denn wenn es sich um eine andere Leistung gehandelt hätte (juristisch als „aliud“ bezeichnet), hätten für die Überbrückungsleistungen möglicherweise eigene ausdrückliche Anträge gestellt werden müssen. Nun ist aber klar: Die Überbrückungsleistungen sind gekürzte normale Leistungen (juristisch als „minus“ bezeichnet) – und daher müssen sie bei einem Antrag auf Bürgergeld nach dem SGB II oder auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII immer automatisch mitgeprüft werden. Das heißt zum Beispiel auch: Wenn ein Antrag auf Bürgergeld nach dem SGB II gestellt wird, dieser wegen der ausländerrechtlichen Sonderregelungen abgelehnt wird, muss das Jobcenter den Antrag von Amts wegen an das Sozialamt weiterleiten – und das Sozialamt muss dann zumindest die Überbrückungsleistungen gewähren (§ 16 Abs. 2 SGB I). Der Anspruch auf Überbrückungsleistungen beginnt, wenn das Sozialamt Kenntnis von der Bedürftigkeit hat, ein spezielles Antragserfordernis gibt es also nicht (§ 18 SGB XII).
  • Im Fall einer akuten Behandlungsbedürftigkeit dürfen die Überberückungsleistungen (die auch eine medizinische Notversorgung umfassen) nicht deshalb verweigert werden, weil in den letzten zwei Jahren schon mal Überbrückungsleistungen bezogen wurden. In diesem Fall handelt es sich um einen Härtefall, der sowohl die zweijährige Sperre als auch die Beschränkung der Leistungen auf einen Monat aufhebt.

In dem konkreten Verfahren ging es um einen polnischen wohnungslosen Mann, der vom Betteln lebte und keine Wohnsitzanmeldung hatte. Er hatte keinen Anspruch auf Bürgergeld oder normale Sozialhilfe, da er kein materielles Freizügigkeitsrecht erfüllte. Er hatte auch keine Krankenversicherung. An einem Freitag, nach Dienstschluss des Sozialamts, kam er notfallmäßig ins Krankenhaus, da der Verdacht auf Herzinfarkt bestand. Dieser bestätigte sich nicht, so dass der Mann am selben Tag wieder entlassen werden konnte. Das Krankenhaus machte die Behandlungskosten direkt beim Sozialamt geltend, da es als Nothelfer gehandelt hatte (§ 25 SGB XII). Das Sozialamt lehnte die Zahlung ab. Das Bundessozialgericht verpflichtete nun das Sozialamt zur Zahlung, da der Mann einen Anspruch auf Überbrückungsleistungen und damit auch auf die medizinische Behandlung gehabt hatte. Da das Sozialamt nicht erreichbar war, hätte er zu diesem Zeitpunkt diesen Anspruch nicht selbst geltend machen können. Dafür gibt es den Nothelferparagrafen (§ 25 SGB XII), der für diese Notfallbehandlung für das Krankenhaus einen Anspruch vorsieht. Ab dem Zeitpunkt, an dem das Sozialamt wieder erreichbar ist, endet der Nothelferanspruch, und der Mann hätte gegenüber dem Sozialamt einen eigenen Anspruch auf Überbrückungsleistungen.

Durch die Entscheidung des Bundessozialgerichts dürfte es für die Praxis einfacher geworden sein, die Überbrückungsleistungen tatsächlich durchzusetzen. Für die Beratung heißt das: Für Personen, die ansonsten überhaupt keine soziale Absicherung hätten, sollten die Überbrückungsleistungen offensiv eingefordert werden. Allerdings gilt es dabei auch zu beachten, dass das Gesetz eine Denunziationspflicht bei der Geltendmachung des Anspruchs vorsieht: Das Sozialamt ist in diesen Fällen nämlich verpflichtet, die Ausländerbehörde zu informieren, die dann möglicherweise das Freizügigkeitsrecht entziehen kann (§ 87 Abs. 2 Nr. 2a AufenthG). Es ist also auch immer eine Abwägung, was für die Betroffenen das geringere Übel ist. Übrigens: Wenn ein Krankenhaus die Überbrückungsleistungen beim Sozialamt selbst einfordert, gilt die Denunziationspflicht nicht: Denn die ärztliche Schweigepflicht „verlängert“ sich dann auf das Sozialamt und eine Datenweitergabe an die Ausländerbehörde darf nicht erfolgen.

 

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